«Verschwindet eine Art, ist das nicht schlimm. Rasch finden sich ähnliche Lebewesen, die diese Lücke füllen. Der Natur ist es egal, ob Arten massenhaft aussterben, Landschaften verschwinden, ganze Ökosysteme umkippen und das Antlitz der Erde dabei wieder einmal umgekrempelt wird.» Keine Angst vorm allgegenwärtigen Artensterben also?
Wer so denkt, sitzt einem gewaltigen und tödlichen Irrtum auf. Zwar gehört es zu den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie, dass Artentod und Aussterben den Lauf der Erdgeschichte bestimmen. So wie die Entstehung neuer Arten ist auch deren Sterben ein natürliches Ereignis; das Kommen und Gehen ist der biologische Normalfall. Keine Art lebt ewig, und die Mehrzahl aller jemals auf der Erde vorgekommenen Arten ist heute längst ausgestorben.
Das jüngste weltweite Sterben läuft in kürzester Zeit und immer schneller ab.
Tatsächlich waren globale biologische Katastrophen, bei denen ganze Faunen und Floren verlorengingen, ein mehrfach wiederkehrendes Déjà-vu der Naturgeschichte. Fünf große Massensterben lassen sich aus den Zeugnissen vom Werden und Vergehen der Arten im Fossilbefund ermitteln. Jedes Mal folgten daraufhin ein Evolutionsschub und ein Aufschwung der Artenvielfalt. Die Natur fährt Achterbahn. In jeder globalen Lebenskrise steckten immer auch neue evolutive Chancen. Erst als die Dinosaurier verschwanden, konnten die Säugetiere ihre evolutive Chance nutzen. Aussterben und Überleben sind zwei Seiten derselben Medaille. Doch beim sechsten, dem derzeitigen Artensterben, hat das Aussterben eine bedrohliche Dimension angenommen. Das jüngste weltweite Sterben läuft in kürzester Zeit und immer schneller ab. Der entscheidende Unterschied sind diesmal wir – der Mensch. Dank unserer unaufhaltsamen Vermehrung und unverminderter Plünderung aller natürlichen Grundlagen sind wir mittlerweile zum bestimmenden Evolutionsfaktor geworden; ähnlich desaströs wie ansonsten nur der Einschlag eines extraterrestrischen Körpers.
Das Heer der Wirbellosen, die 99 Prozent der Biodiversität stellen, stirbt im Stillen
Seit der Globalisierung, die mit Kolumbus und der europäischen Eroberung von Kolonialreichen vor 500 Jahren begann, hat sich das Artensterben vervielfacht. Wie in der Schilderung der Pest von Albert Camus begann es erst unmerklich, mit einigen wenigen Toten. Mittlerweile sind die Zahlen erschreckend, aber wir verschließen die Augen vor diesem Artentod. Wen kümmert es wirklich, dass 20 Prozent aller Fische oder 600 Pflanzenarten in den vergangenen Jahrhunderten ausstarben? Die einschlägige Rote Liste der Weltnaturschutzunion IUCN für die bedrohten Tiere wird stetig länger: 2015 waren es weltweit 77340 Arten.
Es geht um ein anonymes Riesenheer an Tierarten, das für immer von der Erde verschwindet
Doch dabei werden meist nur Wirbeltiere wie Vögel und Säuger erfasst; das noch immer weitgehend unbekannte Heer der Wirbellosen, die 99 Prozent der Biodiversität stellen, stirbt im Stillen. Die meisten Tierarten haben nicht einmal einen wissenschaftlichen Namen; von ihrem Verschwinden bekommen wir nichts mit. Beim sechsten, dem von uns allen verursachten Artensterben, geht es nicht um den letzten Flussdelphin in China, den Eisbären in der Arktis oder den Tiger im tropischen Regenwald. Es geht um ein anonymes Riesenheer an Tierarten, das für immer von der Erde verschwindet.
Wir können von einem neuen Erdzeitalter sprechen – dem Anthropozän
Noch besorgniserregender als die schiere Zahl ist der Umstand, dass das Artensterben anfangs meist isoliert auf kleinen Inseln lebende und daher natürlicherweise besonders gefährdete Arten betraf: den Dodo auf Mauritius, einen Kleidervogel auf Hawaii. Inzwischen aber weitet sich das Sterben der Arten auf zunehmend intensiv genutzte Lebensräume kontinentalen Ausmaßes aus. Selbst das Überleben weitverbreiteter Arten ist gefährdet; überall da, wo wir Natur zerstören – und das tun über sieben Milliarden Menschen weltweit immer mehr: Wir zerstören tropische Regenwälder, zerstückeln Lebensräume, überfischen und vergiften Meere und drehen unablässig an der Klimaschraube. Weltweit greift der Mensch mittlerweile massiv in die natürlichen Prozesse der Erde ein. Das Ausmaß berechtigt, von einem neuen Erdzeitalter zu sprechen – dem Anthropozän.
Wir würden mehr als zwei Planeten benötigen, um unseren Bedarf zu decken
Modellrechnungen zeigen, dass bis 2050 zehn Prozent aller Wirbeltierarten in den großen Regenwaldregionen der Erde – am Amazonas, in Zentralafrika und auf Neuguinea – ausgestorben sein werden, wenn unvermindert ebenso viel Waldfläche wie in den vergangenen Jahrzehnten gerodet wird; ein weiteres Viertel aller Arten wird dann vom Aussterben bedroht sein. Andere Wissenschaftler/innen prophezeien, dass in 50 Jahren die Hälfte aller heutigen Arten verschwunden ist. Zu diesem Zeitpunkt würden wir bereits mehr als zwei Planeten benötigen, um unseren Bedarf an Nahrung, Energie und Infrastruktur zu decken, wenn der Verbrauch an natürlichen Ressourcen so weitergeht wie bisher.
Jede Spezies zählt, unabhängig davon, ob sie lästig ist wie eine Laus, schädlich wie ein Schmarotzer oder hübsch wie eine Haubentaube
Längst gefährden wir unsere eigene Existenz. Denn jede Spezies zählt, unabhängig davon, ob sie lästig wie eine Laus, schädlich wie ein Schmarotzer oder hübsch wie eine Haubentaube ist.
Drei wichtige Gründe, warum das Artensterben auch für uns letztlich tödlich ist:
1. Jede Art ist ein einmaliger und unersetzlicher Speicher genetischer Information: Mit einer ausgestorbenen Art geht ein biologischer Schatz verloren, Rohmaterial für zukünftige biotechnologische Produkte, die synthetisch niemals herzustellen sein werden – von der Ernährung über Schädlingsbekämpfungsmittel bis hin zu medizinisch wirksamen Substanzen aus Pilzen, Pflanzen, Insekten oder anderen Tieren.
2. Der Verlust einzelner Arten hat für ganze Ökosysteme unabsehbare Folgen: Einzelne Schlüsselarten sind für den gesamten Lebensraum entscheidend; fehlen sie, sind am Ende einer Kaskade ökologischer Auswirkungen ganze Ökosysteme bedroht. Beispielsweise sind viele Pflanzenarten von spezialisierten Bestäubern abhängig; fehlen bestimmte Insekten- oder Vogelarten, bedeutet ihr Aussterben auch das Ende ganzer Pflanzengemeinschaften. Fehlen beerenfressende Arten, wird auf diese Weise der Samen von Pflanzen nicht mehr verbreitet; fehlen insekten- und spinnenfressende Vögel, können einzelne dieser Arten überhandnehmen; rotten wir Greifvögel aus, fehlen die natürlichen Aasentsorger. Jeder Ausfall eines Kettengliedes hat gravierende Langzeitfolgen – und zwar weitaus nachhaltigere als das Ausbleiben des Vogelgezwitschers, das eine sich zunehmend in Städten zusammendrängende Bevölkerung (die eine strauchbestandene Grünfläche bereits für Natur hält) ohnehin kaum noch kennt. Jedes Ökologie-Lehrbuch ist voll von Beispielen über delikate Beziehungen in der Natur. Die Erforschung der Naturgeschichte hat uns gezeigt, wie höchst riskant es ist, in das überaus feingeknüpfte ökologische Beziehungsgefüge einzugreifen. Weil einzelne Arten wichtig sind, müssen wir möglichst alle Teile behalten.
3. Artenvielfalt ist die Versicherung für Krisenzeiten: Wie Börsenkurse verfolgen Biologen Anstieg und Abfall der biologischen Artenvielfalt auf der Erde während der Erdgeschichte. Tatsächlich ist biologische Vielfalt wie Geldvermögen; die Währung dabei sind Arten. Und in beiden Fällen gilt: Jeder Rückgang ist ein Verlust, jeder Kurseinbruch bedroht die Bilanz; hält der Trend an, drohen Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz. Nur ein vielfältiges Portfolio ist eine weise Anlagestrategie. So wie Banker und Politiker mittels Stützungskäufen und Rettungsschirmen versuchen, die Finanzmärkte ins Lot zu bringen und Kurse zu stabilisieren, versuchen Natur- und Umweltschützer Lebensräume zu erhalten und das Aussterben von Arten zu verhindern. Zwischen der Stabilität eines Ökosystems und der Anzahl der darin vorkommenden Arten besteht ein enger Zusammenhang: Je größer die Organismenvielfalt, desto geringer wirkt sich eine Umweltkatastrophe aus. Tatsächlich werden natürliche Störungen von artenreichen Ökosystemen besser aufgefangen. Zwar hat sich gezeigt, dass ab einem gewissen Schwellenwert die Widerstandsfähigkeit nicht weiter zunimmt. Dieser Schwellenwert jedoch liegt nur knapp unter der jeweils höchsten festgestellten Artenvielfalt in einem Lebensraum. Das bedeutet: Bereits wenn nur einige wenige Arten verlorengehen, kann das System kippen und schnell zusammenbrechen.
Die Folgen eines fatalen sechsten Massensterbens werden wir nicht überleben
Fazit: Schon wenn einzelne zentrale Arten aus einem Lebensraum verschwinden, hat dies erhebliche Folgen; sterben sie aber zu Dutzenden oder gar Hunderten aus, werden Ökosysteme in ihren Grundfesten erschüttert. Wie bei einem feinmaschigen Netz sind ökologische Verknüpfungen umso stabiler, je mehr Maschen sie verbinden. Ganz zu schweigen davon, dass das allgegenwärtige Artensterben auch ein kultureller und ästhetischer Verlust ist.
Für das Leben auf der Erde ist es nicht zwingend notwendig, die Artenvielfalt von heute zu erhalten. Für uns aber ist es kein Trost zu wissen, dass die Natur die Katastrophe eines fatalen sechsten Massensterbens auch diesmal irgendwie überleben wird, dass einzelne Arten – seien es Ratten oder Kakerlaken – schon durchkommen werden. Denn wir selbst werden nicht mehr dabei sein.
Matthias Glaubrecht ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels wissenschaftlicher Leiter des „Evolutioneum“.
Zum Weiterlesen: „Das stille Sterben der Natur. Wie wir die Artenvielfalt und uns selbst retten“, Matthias Glaubrecht, C. Bertelsmann 2025